DeepL hat vor Kurzem ein neues Tool namens Clarify vorgestellt. Dessen Nutzer können, nachdem sie einen Text mit Deepl Translate übersetzt haben, auf eine Lupe klicken und sich Fragen ansehen, die Clarify ihnen zum Text stellt: Ist Begriff X so oder anders gemeint? Sollte man zu diesem Ausdruck den entsprechenden Ausdruck in der Ausgangssprache in Klammern anfügen?
Als ich das Tool ausprobierte, war meine erste Reaktion als wissenschaftliche Übersetzerin: Nun wird es für mich noch schwerer, zu rechtfertigen, warum eine Humanübersetzung einer maschinell generierten Übersetzung überlegen sein soll. Nach einigem Überlegen bin ich jedoch zu dem genau entgegengesetzten Schluss gekommen: Ich glaube, Clarify hat tatsächlich das Zeug, den Forschenden, für die ich übersetze, zu demonstrieren, worin der Wert meiner Arbeit liegt. Clarify macht klar – zumindest teilweise –, was ich bei jedem Satz in jeder meiner Übersetzungen leiste.

Clarify von DeepL – eine Arbeitsprobe

Schauen wir uns als Beispiel die Übersetzung einer Passage aus Max Webers Die protestantische Ethik [1] an:

„Der Pietismus ist auf dem Boden des Calvinismus in England und besonders in Holland zuerst erwachsen, blieb durch ganz unmerkliche Übergänge mit der Orthodoxie verknüpft, und vollzog dann gegen Ende des 17. Jahrhunderts in der Wirksamkeit Speners seinen Eintritt in das Luthertum, teilweise dogmatisch umfundamentiert.“

DeepL bietet hierfür eine Übersetzung an[2] und Clarify stellt dazu vier Fragen:

  1. Pietismus: Der Pietismus wird oft als „evangelische Mystik“ bezeichnet. Soll diese Information in die Übersetzung aufgenommen werden?
    1. Ja, füge diese Information in Klammern hinzu.
    1. Nein, diese Information ist nicht erforderlich.
  2. Orthodoxie: Es gibt für diesen Begriff mehrere Übersetzungsmöglichkeiten. Geht es hier um die orthodoxe Kirche, oder um Orthodoxie im Sinne von „traditionell“ oder „konform“?
    1. Es geht hier um Orthodoxie im Sinne von „traditionell“ oder „konform“.
    1. Es geht hier um die orthodoxe Kirche
  3. Speners: Es ist vielleicht nicht jedem Leser klar, wer Spener war. Soll die Übersetzung kurze Details liefern?
    1. Ja, es soll in einer Fußnote darauf hingewiesen werden, dass Spener ein deutscher Theologe war.
    1. Nein, es soll nur der Name verwendet werden.
  4. Luthertum: Der Begriff „Luthertum“ hat keine genaue Entsprechung im Englischen. Wie sollte er übersetzt werden?
    1. Ersetze ihn durch eine Beschreibung dieses Begriffs (z. B. „the teachings of Martin Luther“)
    1. Ersetze ihn durch einen ähnlichen Begriff (z. B. „Lutheranism“).

Das sind legitime Fragen, die ich mir selbst auch stellen würde, wenn ich diese beiden Passagen zu übersetzen hätte. Im obigen Beispiel hatte Clarify alle Stellen gefunden, über die ich mir selbst beim Übersetzen Gedanken machen und in die ich Zeit investieren müsste. Bei anderen Übersetzungsaufgaben ist Clarify jedoch meiner Ansicht nach über wichtige Fragen hinweggegangen. Das Tool hat sogar einige Lösungsvorschläge gemacht, auch wenn im jeweiligen Fall durchaus noch andere denkbar gewesen wären. Was Clarify nicht kann: seine eigenen Fragen beantworten. Genau das ist jedoch mein Job als wissenschaftlicher Übersetzer. Um aus mehreren Übersetzungsoptionen die beste auswählen zu können, ist wahrscheinlich weitere Recherche nötig – beispielsweise um herauszufinden, wie das englische „Lutheranism” in ähnlichen Texten verwendet wird und ob „Pietismus“ in der Übersetzung einen erklärenden Zusatz benötigt (und falls ja, wie lang dieser sein muss). So sind gute wissenschaftliche Übersetzer immer verfahren. Und genau diese Arbeit ist in der Regel unsichtbar geblieben.

Unsichtbare Arbeit wird sichtbar Das Tool stellt einige richtige Fragen, die das Übersetzen aufwirft. Dadurch macht es zumindest einen Teil der Arbeit sichtbar, die wissenschaftliche Übersetzer an jedem Satz verrichten, den sie übersetzen. Nun kann es tatsächlich sein, dass Forschende Clarify künftig wie vorgesehen einsetzen: sich einen Aufsatz Satz für Satz übersetzen lassen und die von Clarify gestellten Fragen beantworten, dann entscheiden, ob Clarify wichtige Probleme übersehen hat, und schließlich die nötige Recherche vornehmen, um die im spezifischen Fall beste Option auszuwählen. Hierzu möchte ich allerdings anmerken, dass Clarify zu den meisten ihm vorgelegten wissenschaftlichen Sätzen zwischen zwei und vier Fragen gestellt hat; dies ergibt, multipliziert mit der durchschnittlichen Anzahl von Sätzen in einem wissenschaftlichen Aufsatz, eine Menge an Fragen, die durchaus abschrecken kann. Auch aus diesem Grund könnte Clarify sich als ein Tool erweisen, das die mühevolle Arbeit, die wissenschaftliche Übersetzer seit vielen Jahren leisten, erst an den Tag bringt – und damit auch den Wert aufzeigt, den ein wissenschaftlicher Übersetzer produziert, der aufgrund seiner Fachkompetenz sowohl erkennt, welche Fragen gestellt werden müssen, als auch weiß, auf welchem Wege Antworten zu finden sind.

 

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[1] Weber, M. (1984). Die protestantische Ethik: Eine Aufsatzsammlung (hrsg. v. J. Winckelmann, 7. Aufl. S. 115). Gütersloher Verlagshaus. (Erstveröffentlichung 1920)

[2] Von DeepL gelieferte Ausgangsübersetzung: „Pietism first developed on the basis of Calvinism in England and especially in Holland, remained linked to orthodoxy through very subtle transitions, and then, toward the end of the 17th century, under the influence of Spener, made its entry into Lutheranism, partly with a new dogmatic foundation.”


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