Ich bin gelegentlich für Textworks Translation als Übersetzer tätig und habe bisher noch keine KI (DeepL) eingesetzt, um wissenschaftliche Texte zu übersetzen. Wohl habe ich sonst als Übersetzer sehr viel mit KI zu tun, die für mich Texte aus anderen Fachgebieten – z. B. Industrieautomatisierung, IT – massenhaft und schnell vorübersetzt. Dadurch konnte ich schon einen gewissen Eindruck von ihren typischen Stärken und Schwächen gewinnen. Ich war jedoch, wahrscheinlich genau deshalb, skeptisch gegenüber ihrem Einsatz in der Übersetzung wissenschaftlicher, genauer: sozialwissenschaftlicher Texte.

Die KI wird getestet

Ich war aber auch neugierig. Also besorgte ich mir ein DeepL-Abo, lud mir einen englischen Text aus dem Internet, den zu übersetzen ich mir einerseits selbst zugetraut hätte, der andererseits aber auch möglichst zufällig gewählt sein sollte, und ließ die KI ihre Aufgabe lösen: einen englischen Aufsatz des Soziologen Nico Stehr[1] ins Deutsche zu bringen.

Hier der erste Absatz im Vergleich – Stehr:

Introduction

The history of sociological theory coincides with apparently successful efforts by sociologists to purge sociological discourse of a wide range of considerations. Politics, ethics, philosophy, epistemology and history, representing concerns which in many ways predate but also gave rise to sociology, are now seen to have their own separate identities, as does, of course, sociology itself.

Und der Vorschlag der KI:

Einführung

Die Geschichte der soziologischen Theorie fällt mit den scheinbar erfolgreichen Bemühungen der Soziologen zusammen, den soziologischen Diskurs von einer breiten Palette von Überlegungen zu befreien. Politik, Ethik, Philosophie, Erkenntnistheorie und Geschichte, die in vielerlei Hinsicht der Soziologie vorausgingen, aber auch aus ihr hervorgingen, werden nun als eigenständige Bereiche betrachtet, wie natürlich auch die Soziologie selbst.

Keine positive Überraschung

Was ich vielleicht insgeheim befürchtet hatte – ein triumphaler erster Aufschlag der KI – blieb aus. Stattdessen sah ich viel von der KI Gewohntes, das meine grundsätzliche Skepsis bestätigte:

  • frappierende Ungenauigkeiten, Fehler und Lücken (warum „Einführung“? – der erste Abschnitt des Aufsatzes ist doch keine Vorlesungsreihe; „der Soziologen“ – alle waren es eben nicht; wo sind die „concerns“ und die „identities“ geblieben?; statt „aus ihr hervorgingen“ wäre genau das Umgekehrte richtig),
  • fragwürdige Interpretationen („befreien“ geht in eine Richtung, die nicht zur Gesamtargumentation des Textes passt; Stehr schreibt darin eher über Prozesse der Ein- und Ausgrenzung, der Bestimmung des Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen in der Soziologie, nicht über „Befreiung“) und schließlich
  • den gelegentlichen stilistischen Missgriff (wie die „breite Palette“, die von der sehr wissenschaftlich-präzisen Diktion Stehrs im Register hörbar nach unten abweicht).

 

Solche Eindrücke verstärkten und verdichteten sich und die Beispiele dafür vermehrten sich im Fortgang des Textes.

Auf fehler- und lückenhaftem Fundament: Textorganisation und Individualität

Sie verweisen, zusammengenommen, auf ein Defizit auf einer zweiten Ebene. Schon im ersten Absatz beschlich mich das Gefühl: Die KI weiß (anders als der Autor) selbst nicht, worauf sie hinauswill. Sie findet den eigenen roten Faden nicht. Sie kennt nicht ihr Argumentationsziel. Sie denkt (anders als der Autor) nicht strategisch und weil sie keine Strategie hat, kann sie ihren Text nicht strategisch abstimmen und organisieren. (Denn sonst wäre ihr wohl auch die Sache mit dem „befreien“ nicht passiert.)

Das bringt mich zu einer dritten Ebene: Wer (wie die KI) einen Text schon nicht intellektuell organisieren kann, der ist vielleicht auch nicht in der Lage, ihm Individualität zu geben. Hier, gestehe ich ein, begebe ich mich weitgehend auf das Feld der Spekulation. Allerdings stütze ich mich dabei auf die grundsätzliche Überlegung, dass die beschriebene intellektuelle Ebene in der Textproduktion normalerweise die Pflicht und die Nachzeichnung einer individuellen Handschrift so etwas wie die Kür bildet. Zum anderen dient mir als Indiz das Einzelbeispiel des obigen Textes von Herrn Stehr, der als Persönlichkeit in der DeepL-Übersetzung blass und konturlos bleibt.

Übersetzen als Stimmenimitation

Sozialwissenschaftler:innen sind Menschen und – auch wenn manche das geschickt verbergen – sprechen und schreiben mit einer menschlichen, individuellen „Stimme“. In ihr finden sich Spuren ihrer intellektuellen Biografie, ihrer Epoche, ihrer sozialen und (natürlich) wissenschaftlichen (Selbst-)Verortung, ihrer Persönlichkeit und ihres Temperaments. Theodor Adorno, Niklas Luhmann oder Judith Butler sind oft schon nach wenigen Zeilen an ihrem typischen Duktus zu erkennen. Einer der herausforderndsten, aber auch schönsten Aufträge für mich als Übersetzer betraf eine Reihe von Aufsätzen, die der Soziologe Karl Mannheim im Londoner Exil auf Englisch geschrieben hatte. Diese galt es in den charakteristischen „Mannheim-Duktus“ zu überführen, der ihn sowohl individuell kennzeichnet als auch Teil eines charakteristischen Deutsch von Intellektuellen der 1920er Jahre ist, das die österreichische Sprachwissenschaftlerin Anne Betten als „Weimarer Deutsch“ bezeichnet hat. Vielleicht werde ich damit ja meinen nächsten KI-Selbstversuch bestreiten.

Warum KI mich beim Übersetzen stört – ein musikalischer Vergleich

Abschließend möchte ich auf ein an dieser Stelle oft vorgebrachtes Argument eingehen: Wenn KI-Tools auch ihre Schwächen und Macken haben, können sie dann nicht wenigstens wertvolle, weil Zeit sparende Vorarbeit leisten? Ich will hier nicht die andernorts schon genannten, richtigen Argumente gegen diese Nutzungsweise wiederholen. Sondern meine Skepsis wieder prinzipiell – und noch spekulativer als vorher – begründen, und zwar mit einem bildhaften Vergleich.

Das Übersetzen (sozial-)wissenschaftlicher Texte ist eine komplexe Dienstleistung, vergleichbar etwa mit der Interpretation eines Musikstücks. Die Gemeinsamkeit liegt in einer gewissen Grundkompetenz gegenüber dem Ausgangsmaterial. Übersetzende und Musik Aufführende können den Text oder die Noten lesen, die sie vor sich haben. Sie beherrschen ihr Werkzeug, also ihre Zielsprache oder ihr Instrument, und können das Vorgegebene kompetent transformieren: in einen Zieltext beziehungsweise eine musikalische Aufführung. Nur sehr wenige Musiker:innen aber beginnen – soviel ich weiß – die Erarbeitung eines Werks damit, dass sie sich fremde Aufführungen anhören, noch bevor sie ihre eigene Idee vom Stück entwickelt haben.

Eine gute Rolle für die KI

So ähnlich würde es mir wahrscheinlich gehen, wenn ich einem KI-Tool quasi das erste Wort zu einem Text erteilen würde und nur noch auf seine Version reagieren könnte. Ich müsste dann, neben dem ganzen – mit Verlaub – Unsinn, mit dem ich mich auf der Ebene der konkreten Fehler (s. o.) auseinandersetzen müsste, außerdem versuchen, die nebelhafte Textstrategie und -organisation der KI zu durchdringen, wo mir doch ein Blick auf das Original viel schneller und besser Klarheit verschaffen würde. Oder ich müsste mit KI-Version und Ausgangstext im Wechsel arbeiten. Und obwohl ich genau das bei (bestimmten) nicht-wissenschaftlichen Texten ständig tue, kann ich es mir bei sozialwissenschaftlichen Texten als produktive Arbeitsweise bislang nicht vorstellen. Hier nutze ich die KI gerne im Nachgang, für weitere Inspirationen und als Korrektiv. Diese Rolle fällt der KI in meinem Arbeitsprozess zu. Bis sie irgendwann besser wird.

[1] Nico Stehr: From Classical to Contemporary Sociological Theory: Conditions for the Success and Failure of Sociological Theory, 2014 (https://www.researchgate.net/publication/260185717_Stehr_Nico_From_Classical_to_Contemporary_Sociological_Theory_Conditions_for_the_Success_and_Failure_of_Sociological_Theory)

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Der Autor ist promovierter Soziologe und seit über zehn Jahren als Englisch-Deutsch-Übersetzer für Textworks Translations tätig. Seine Übersetzertätigkeit nahm er 1989 auf; promoviert wurde er 2003 mit einer Arbeit zum Thema Geschlechterverhältnis und Macht.

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